Frankfurt Notes – Börsengang: Carpe Diem

Der Begriff der „Zeitenwende“ dürfte ein Favorit für die Wahl zum Wort des Jahres 2022 sein. Als Olaf Scholz diesen Begriff Ende Februar im Deutschen Bundestag verwendete, ging es um seine politische Dimension: Der Angriff auf die Ukraine und die Rückkehr imperialistischen Strebens und militärischer Aggression nach Europa schienen bis vor kurzem unvorstellbar. Zeitenwende heißt es aber auch am Kapitalmarkt: die Inflation ist zurück, Zentralbanken leiten Kurswechsel ein, die Ära jahrzehntelanger Renditerückgänge scheint ebenso beendet wie die Phase gleichzeitig steigender Preise aller möglichen Asset-Klassen.

Für die Einordnung all dieser Strukturbrüche benötigen die Kapitalmärkte vor allem eins: Zeit – und so schossen Volatilitäten seit Ende Februar durch die Decke. Der VDAX New-Index der Deutschen Börse, der die implizite Volatilität des DAX für die nächsten 30 Tage misst, lag in der Spitze bei nahe 45 und damit fast 3x so hoch wie Anfang Januar. Aktuell steht der Index bei 30. Für Börsenkandidaten heißt dies vor allem Abwarten. Denn, auch wenn sich vieles geändert hat, so gilt doch unverändert: in hoch volatilen Märkten lassen sich Emissionen nur mit zumeist inakzeptabel hohen Abschlägen platzieren.

So enttäuschend dies für Börsenkandidaten zunächst sein mag, so wenig ist dies ein Grund, die Flinte ins Korn zu werfen. Denn der Blick auf den Volatilitätsindex zeigt auch, wie volatil dieser selbst ist – und wie schnell und manchmal unvermittelt sich Emissionsfenster öffnen können. Für Emittenten heißt dies zum einen, sich bereit zu halten und zentrale Arbeitsstränge wie Prospekt, Analystenpräsentation oder IR-Internet-Präsenz so weitgehend wie eben möglich vorzubereiten. Zum anderen empfehlen wir die Zeit zu nutzen, die sich unverhofft ergibt, um den Vorbereitungsprozess und seine Elemente zu beleuchten und zielgerichtet an den kritischen Erfolgsfaktoren für den Börsengang zu arbeiten:

Equity Story auf den Prüfstand. Die Zeitenwende stellt Unternehmen vor völlig neue Herausforderungen. Höhere Finanzierungskosten, Risiken für die Versorgungssicherheit mit fossilen Energieträgern, signifikante Preissteigerungen bei Inputgütern oder der Wegfall von Zulieferern und Absatzmärkten können vieles in Frage stellen. Bevor Investoren den Finger in die Wunde legen, sollten Unternehmen sich selbst ganz offen und ehrlich fragen: Tragen Strategie und Equity Story der Zeitenwende wirklich Rechnung? Werden die bisherigen Antworten den neuen Herausforderungen gerecht?

Investoren-Feedback bewerten. Wer Early-Look- oder Pilot-Fishing-Termine bereits hinter sich hat, kann wichtiges Investoren-Feedback in diese Überlegungen einfließen lassen. Unabhängig von der Qualität des inhaltlichen Feedbacks sollte jeder Emittent mit den begleitenden Banken kritisch hinterfragen, inwiefern die bisher getroffenen Investoren tatsächlich die realistischen Abnehmer einer Aktienplatzierung sein werden. Hochqualifizierte Spezialisten bei Platin-Sales-Accounts geben zumeist besonders gutes inhaltliches Feedback. Den Erfolg einer recht kurzfristig angesetzten IPO-Platzierung können aber gerade kleinere Adressen oder Family Offices mit kurzen Entscheidungswegen bestimmen.

Berichtsprozesse testen. Neue Berichtsformate und -deadlines stellen für die meisten Unternehmen nach dem IPO eine echte Herausforderung dar. Eine gute Antwort kann sein, frühzeitig die Formate für Zwischenbericht, Quartalsmitteilung und Analystenpräsentation zu entwerfen. Die noch bessere Antwort ist es, gleich einen realistischen Probelauf von der Datenzulieferung und Präsentationserstellung bis hin zur simulierten Telefonkonferenz mit dem Management zu absolvieren. Das mag mühevoll erscheinen, bietet u.E. aber zwei große Vorteile: Unternehmen beziehen nicht nur die kleinen, eingeschworenen Projektteams in die Vorbereitung ein. Sie testen zudem ihre Prozesse, ohne dass kleinere oder größere Fehler öffentlich werden.

Governance-Prozesse aufsetzen. Mit der Veröffentlichung des Emissionspreis erfolgt die erste Ad-hoc-Meldung eines Unternehmens i.d.R. unmittelbar vor dem Börsengang. Aber: Liegt eine Ad-hoc-Richtlinie vor? Ist ein Komitee benannt? Und hat man Entscheidungen über mögliche Ad-hoc-Sachverhalte, die das Unternehmen ganz schnell und unerwartet treffen können, schon einmal durchgespielt? Außerdem: Sind Schulungen für Vorstände und Aufsichtsratsmitglieder vorbereitet, um sie auf die – nicht immer intuitiven – Meldepflichten und Handelsbeschränkungen für sich und ihre (Haushalts-)Angehörigen hinzuweisen? Wie lange wird der Handel von Mitarbeitern in eigenen Aktien untersagt und welche Sonderregelungen gelten für kritische Unternehmensbereiche? Sind die Verantwortlichkeiten definiert, wer im Unternehmen welche Prozesse übernimmt und dokumentiert?

Dienstleister auswählen – Internet vorbereiten. Ob bei Meldungen an BaFin und Börse, dem Führen eines Aktienregisters oder beim Veröffentlichen der IR-Internet-Präsenz: ohne Dienstleister sind manche Prozesse rund um oder nach dem Börsengang nicht denkbar. Wer sich noch nicht entschieden hat, findet jetzt Zeit, Dienste auszuschreiben und Anbieter kennenzulernen. Das Unternehmen, das bereits ein Konzept griffbereit hat, welche Navigation und Landing-Page die IR-Internet-Präsenz am Tag des Listings haben soll, kann knappe Zeit nach der Ankündigung des Börsengangs für zeitkritische Themen einsetzen.

Die Zeitenwende trifft auch den Kapitalmarkt. Viele Kapitalmarktprojekte erscheinen kurzfristig nicht umsetzbar, solange Volatilitäten unverändert hoch bleiben. Die Vergangenheit zeigt allerdings auch, dass es stets vorbereitet zu sein gilt – und sich die unfreiwillig gewonnene Zeit durchaus nutzen lässt, um die späteren Erfolgsaussichten des Börsengangs zu verbessern. Carpe diem.