Frankfurt Notes – Behavioral Finance: Ansatzpunkte für die IR-Praxis

Der Homo Oeconomicus der neoklassischen Wirtschaftstheorie ist ein durchweg vernünftiger Zeitgenosse, der mit unbegrenzter Rationalität, unbändiger Willenskraft und ohne einen Anflug von Altruismus seinen Nutzen maximiert. Frei nach dem deutschen Ökonomen Hanno Beck ist eine leibhaftige Begegnung ähnlich realistisch wie die des wahlverwandten Halb-Vulkaniers Mr. Spock, der nach erfolgreicher Weltraum-Mission als selbstbewusster, emotionsloser Konsument und Entscheider auf der Erde gelandet ist.

Der Spock der Wirtschaftswissenschaften hat enorme Verdienste erworben. Was Reagenzglas und Labor in vielen naturwissenschaftlichen Disziplinen, sind in den Wirtschaftswissenschaften Annahmen und Modelle. Und diese erfordern vor allem eins: eine auf wesentliche Zusammenhänge reduzierte Abbildung der Wirklichkeit. Viele Erkenntnisse hätten sich ohne den Homo Oeconomicus nicht ergeben. Mission erfüllt – oder in Spocks Worten schlicht „faszinierend“.

Doch Mr. Spock und das Team von Captain Kirk sind Fiktion. Und auch der Homo Oeconomicus existiert nur in der Modellwelt. Die Grenzen des Konzepts treten zutage, wo es um reale Entscheidungen geht. Viele Studien und Experimente zeigen, dass menschliche Entscheidungsprozesse komplex sind und nicht einer strikten Rationalität folgen. Der Wirtschaftswissenschaftler Richard Thaler bringt dies mit dem Begriff „misbehaving“ auf den Punkt: Menschen verhalten sich nicht modellkonform, ihr tatsächliches Entscheidungsverhalten ist vielschichtig: Wir sind alle keine Spocks – zum Leidwesen mancher Ökonomen und der vermutlich meisten „Trekkies“.

Behavioral Economics setzt an dieser Stelle an. Die nicht mehr ganz junge Disziplin stellt die Frage in den Mittelpunkt, wie Menschen Entscheidungen treffen und integriert psychologische Aspekte in die Wirtschaftswissenschaften. Dabei widmet sich Behavioral Finance speziell den Fragestellungen des Kapitalmarkts. Mittlerweile ist die Disziplin fester Bestandteil universitärer Curricula. Mit Daniel Kahneman (2002) und Richard Thaler (2017) haben zwei ihrer Vertreter Nobelpreise gewonnen. Einer breiten Öffentlichkeit ist das Thema durch Sachbuch-Bestseller und ein breites Angebot an einführender Literatur für Investoren und Entscheider bekannt.

Doch wo Investoren auf volle Bücherwände zurückgreifen können, stehen die Experten der Kapitalmarktkommunikation vor leeren Regalen. Also schlicht kein Thema für Investor Relations – oder eher ein zu Unrecht blinder Fleck? Zieht man die Definition des DIRK heran, so bezeichnet „Investor Relations (IR) […] die strategische Managementaufgabe, Beziehungen des Unternehmens zu bestehenden und potenziellen Eigen- und Fremdkapitalgebern sowie zu Kapitalmarktintermediären zu etablieren und zu pflegen.“ Es geht also um das Verständnis für Investoren, für Märkte und eben auch darum, Verhalten zu antizipieren. Es geht darum, Intuition zu entwickeln und gleichzeitig deren Grenzen zu erkennen. Und im Dialog mit Entscheidungsträgern in den Unternehmen geht es manchmal auch um besser fundierte Argumente als den Hinweis auf das eigene Bauchgefühl.

Teilt man die Einschätzung, dass Entscheider und Investoren vor allem Menschen und keine Spocks sind, so ergibt sich eine erste wesentliche Schlussfolgerung für die Investor-Relations-Arbeit: wo Märkte nicht per se effizient sind und verhaltensökonomische Aspekte eine Rolle spielen, entscheidet nicht nur das Ob, sondern auch das Wie der Informationsvermittlung. Aufbereitung, Darstellung und Interpretationshilfe sind essenziell. Informationen zum Stichtag einfach „irgendwie“ zu veröffentlichen, reicht nicht. IR-Verantwortliche werden es wenig überrascht zur Kenntnis nehmen: Investor Relations matters – eben auch wissenschaftlich herleitbar.

Sieben Ansatzpunkte für die IR-Praxis

Doch was heißt dies für die praktische Arbeit von IR-Verantwortlichen? Welche konkreten Schlüsse lassen sich ziehen? Eine erste Annäherung in sieben Punkten:

Dividenden stabil halten. Mit der Wertfunktion der Prospect Theory bilden Daniel Kahneman und Amos Tversky den subjektiven Wert von Vermögensveränderungen ab. Verlusten wird in Experimenten ein höheres Gewicht beigemessen als gleichhohen Gewinnen – symmetrische Wetten, bei denen Kandidaten mit 50% Wahrscheinlichkeit den gleichen Betrag gewinnen oder verlieren können, sind nicht attraktiv. Heißt für Unternehmen? Investoren messen der Stabilität von Gewinn- und Dividendenreihen einen Wert bei. Positive Überraschungen gegenüber einem Referenzwert können den Schmerz gleichhoher Verluste in anderen Jahren nicht kompensieren. Planbarkeit und Verlässlichkeit sind im Zweifel wichtiger als die in Summe etwas höhere Dividendensumme oder das etwas höhere Wachstum über einen Mehrjahreszeitraum. Dividendenrückgänge gilt es, wenn irgend möglich, zu vermeiden.

Attraktives Kommunikationsangebot an Privataktionäre. Wer selbst in Aktien investiert, weiß, wie schwer es fällt, eine Position mit Verlust zu schließen. Einen Verlust realisieren, bedeutet sich einzugestehen, falsch gelegen zu haben. Dies wiegt auch deshalb so schwer, weil Konsequenzen unterschiedlicher Handlungen häufig einzeln betrachtet werden, im Sinne der sogenannten mentalen Buchführung. Diese führt in Kombination mit der asymmetrischen Wahrnehmung von Gewinnen und Verlusten zum Dispositionseffekt: Gewinneraktien werden in der Tendenz zu früh verkauft, Verliereraktien zu lange gehalten. Privataktionäre, die zumeist weniger regelorientiert investieren als institutionelle Investoren, bilden daher eine besonders loyale Aktionärsgruppe, die einer Aktie gerade in schweren Zeiten Stabilität verleihen kann. Der „Preis“, den Privataktionäre für diese Leistung verlangen: niedrigschwellige Informationsangebote über Internet und Social Media, eine Kommunikation auf Augenhöhe analog zu anderen Aktionärsgruppen, eine verlässliche Ausschüttungspolitik.

Darstellung zählt. Der Fingerzeig auf den weniger regelorientierten Privataktionär sollte nicht missverstanden werden. Wir alle treffen jeden Tag unzählige Entscheidungen, wichtige und unwichtige, kurz- und langfristig ausgerichtete – auch der Sell-Side-Analyst, der 15 Titel abdeckt, oder der institutionelle Investor, der 100 Aktien kontinuierlich im Blick haben muss. Um die Flut an Entscheidungen bewältigen zu können, verlassen wir uns in vielen Fällen – und häufig unbewusst – auf unsere Intuition. Daniel Kahneman hat den Begriff des intuitiven System 1 für ein schnelles, automatisches, quasi müheloses Entscheiden geprägt, mit dem man schnell zu einem Urteil kommt. Das rationale System 2 steht demgegenüber für einen langsamen, die Annahmen hinterfragenden Prozess, der Zeit und Anstrengung erfordert. Wird die Aktienperformance oder Gewinnreihe, die sich volatil nach oben entwickelt, einmal als Liniendiagramm und einmal über Veränderungsraten als Säulendiagramm dargestellt, erkennen die meisten Beobachter dies nicht – sondern halten die Performance im Liniendiagramm für überzeugender. Darstellungen in Säulen- und Linienabbildungen machen bei volatilen Zeitreihen daher einen großen Unterschied. Und etwas grundsätzlicher: Es macht viel Sinn, über Darstellungsalternativen nachzudenken und sie zu prüfen. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich bestimmte Darstellungsgewohnheiten eingeschlichen haben, die lange Zeit nicht hinterfragt worden sind.

Auf den IKEA-Effekt setzen. Overconfidence bezeichnet das beobachtbare Phänomen, die eigenen Fertigkeiten und die Ergebnisse eigenen Handelns zu positiv einzuschätzen – ob beim Autofahren oder bei Zukunftsprognosen. Einen freundlicheren Zungenschlag liefert die Einordnung als IKEA-Effekt. Wer den Kleiderschrank PAX oder das Excel-Modell zum Unternehmen Y selbst gebaut hat, findet diese möglicherweise nicht nur besonders gelungen, sondern weiß auch sehr genau, wo Teile oder Annahmen vollständig sind und wo sie gut oder eben auch gar nicht zusammenpassen. Daraus resultiert für die höhere Glaubwürdigkeit von Zielen und Prognosen: nachrechenbar machen.

Den richtigen Rahmen setzen. Die Bezeichnung Framing hat Einzug in die Alltagssprache gehalten. Ihre Bedeutung: Die Darstellung und der Kontext eines Sachverhalts haben Einfluss auf dessen Wahrnehmung. Diese Erkenntnis reicht von banalen Alltagszusammenhängen, ob das Glas halbvoll oder halbleer ist oder die Vollmilch 3,8% Fettanteil hat oder 96,2% fettfrei ist, bis hin zu komplexen Erklärungsmustern für wirtschaftliche Entwicklungen. So definiert der Ökonom Robert J. Shiller in „Narrative Wirtschaft“ ein ökonomisches Narrativ als „eine ansteckende Story, die das Potenzial hat, den Prozess wirtschaftlicher Entscheidungen von Menschen zu verändern“. Der Investor, dessen Unternehmen erhebliche Investitionen in zukünftige Gewinne getätigt hat, möchte trotz anderer Investmentopportunitäten vermutlich ungerne auf deren Realisierung verzichten. Das ist nicht anders als beim Käufer von Theaterkarten, der trotz der attraktiven Party-Einladung, die kurzfristig reinflatterte, ungern auf die Aufführung verzichtet.

Gutes nicht unter den Tisch fallen lassen. Der confirmation bias bezeichnet die Neigung, Informationen selektiv und als Bestätigung vorgefasster Einschätzungen wahrzunehmen. Für den Sell-Side-Analysten ist es durchaus rational, an einer Meinung länger festzuhalten und mit dieser über die Zeit auch wahrgenommen zu werden. Der Investor kann und will sein Portfolio allein wegen der Handelskosten nicht ständig drehen. Positive Aspekte gehören auch in der Krise zur Darstellung der Lage. Sie können beitragen, Unterstützer des Investment Cases gewogen zu halten – solange kein wirklichkeitsfernes Zerrbild der Wirklichkeit entsteht.

Aus einem Problem kein Fass ohne Boden machen. Kahneman’s WYSIATI-Regel (für “what you see is all there is”) ist Ausgangspunkt der Fokussierungsillusion. Wir alle neigen dazu, Entwicklungen an den Determinanten festzumachen, die wir selbst im Blick haben. Komplexe Probleme werden durch diesen Kniff häufig erst erfassbar. Die Chance für Unternehmen: Das Eingrenzen eines Problems auf seinen Kern verbunden mit klaren Zielgrößen für dessen Lösung und einem transparenten Entwicklungspfad kann helfen, Vertrauen zügig wiederzugewinnen.

Fazit: Behavioral Finance hat großes Potenzial, Investor-Relations-Verantwortliche bei ihrer wichtigen Aufgabe zu unterstützen, die Beziehungen zu Investoren zu pflegen und die Unternehmenswirklichkeit konstruktiv abzubilden. Es gibt ohne Frage noch viel zu entdecken und zu tun – oder in den Worten von Spock und Captain Kirk: „Volle Schubkraft voraus.“